In vielen Kinderbüchern und Aufklärungsmaterialien wird das Coronavirus den Kindern mit einem grausigen Gesicht als Lebewesen vorgestellt und Schutzmaßnahmen mit vermenschlichten Eigenschaften erklärt: "Haltet Abstand, der Coronavirus kann nicht weit springen!" ist nicht selten zu lesen. :-(
Diese oder ähnliche Bilder prägten natürlich auch die Vorstellungen der allermeisten der über 2000 Kinder, die wir besucht haben. In 79 Klassen die wir zwischen den Sommer- und Herbstferien 2020 geschult haben*, haben wir zu Beginn der Stunde die Kinder erzählen lassen, was sie über das Coronavirus schon gehört haben, damit wir uns auf ihren Wissenstand einstellen konnten. Von all diesen Kindern haben nur in zwei Klassen einzelne Kinder gewusst, dass ein Virus sich gar nicht selbst bewegen kann. Alle anderen Kinder beschrieben uns ein Virus als ein mehr oder weniger winziges Lebewesen, das Menschen anspringen könne.
Da ist es nicht überraschend, wenn Kinder Angst bekommen, denn die Vorstellung, jederzeit und überall von einem unsichtbaren, sehr gefährlichen Wesen angesprungen zu werden, ist tatsächlich eine beängstigende Vorstellung.
Dabei entspricht sie doch gar nicht der Wahrheit!
- Ein Virus ist doch gar nicht lebendig.
- Es springt niemanden an. Es springt weder kurz noch weit, Es springt gar nicht.
- Wenn WIR MENSCHEN das Virus nicht bewegen, bleibt es einfach wo es ist.
Daher beschreiben wir den Kindern einen Virus wie Dreck, zugegebenermaßen gefährlicher Dreck. Und ab dem Punkt "ein Virus ist wie Dreck" kann man den Kindern zuerst Erstaunen und Sprachlosigkeit, (nicht selten ist es in der Klasse plötzlich so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte) und dann große Erleichterung anmerken. Denn mit Dreck können Kinder umgehen. Sie wissen dass er nicht durch die Haut geht, sie Dreck durch Händewaschen los werden und dass er nicht von der Hand in den Mund, Nase und Augen gelangen darf. Fällt Euch was auf? Jawoll. Wenn man den Kindern das Bild von "üblem Dreck" statt einem "lebendigen Wesen" vermittelt, braucht man das Händewaschen gar nicht mehr selbst anzusprechen, denn die Kinder entwickeln das aus den Situationen ganz von selbst und verbinden damit ein starkes Gefühl der Selbstwirksamkeit, denn jedes Grundschulkind weiß genau, wie es (Virus-)Dreck loswerden kann.
Das ist der Grund, warum wir mit diesem Bild beginnen, obwohl natürlich klar ist, dass der häufigere Übertragungsweg weniger Schmierinfektion, sondern mehr verschiedene Formen der Tröpfcheninfektion sind. Und dafür brauchen wir ähnlich starke Bilder in den Kinderköpfen.
Aber die Bedingung ist jetzt gut, dass das gelingt, denn die Kinder sind nach ihrem Erfolgserlebnis "ich habe verstanden, wie Menschen das Virus verbreiten und kann mit Händewaschen etwas dagegen tun" erwartungsfroh dass sie alles weitere auch verstehen werden, und das werden sie auch. Nachdem sie z.B. hören, dass unter "Tröpfcheninfektion" potenzieller Virusdreck im "Rauch" zu verstehen ist, den sie im Winter aus ihrem Mund kommen sehen, leiten sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch die Schutzmaßnahmen Abstand und Maske tragen selbständig ab und begreifen sofort, dass sie gegen kleinste luftgetragenen Virus-Dreck-Tröpfchen, die sich im Raum, wie Zigarettenrauch ansammeln, am besten lüften.
Dass die überwältigende Mehrheit der Kinder (und vermutlich auch einige Eltern) glauben, dass ein Virus ein winziges lebendiges Wesen sei, das Menschen „anspringen“ würde, hat nämlich neben Angst und Schrecken noch einen weiteren destruktiven Effekt:
Mit dem Bild eines lebendigen, den Kindern nachstellenden Virus im Kopf können Kinder gar nicht begreifen, warum die Schutzmaßnahmen AHA+L helfen sollten. Denn welches Insekt lässt sich schon von Abstand oder Händewaschen abhalten oder verlässt den Raum freiwillig, wenn wir lüften?
Angst & Traurigkeit
Angst und Traurigkeit der Kinder und ihr Unverständnis, warum sie ihre Oma nicht mehr umarmen sollten, waren der Ursprung unseres Projektes Kinder gegen Corona. Die sachliche Aufklärung in Kindersprache, die wir heute im Projekt einsetzen, ist sozusagen als Maßnahme sukzessive aus unseren Erfahrungen mit den Kindern entstanden, weil wir den beängstigenden Bildern in den Kinderköpfen von "Viren als unsichtbaren, vampirähnlichen Wesen" etwas entgegensetzen mussten. Und tatsächlich ist die Realität bei weitem nicht so furchterregend, wie die Phantasie in vielen Kinderbüchern und wird - weil sie ihre eigenen Möglichkeiten spüren sich zu schützen - von den Kindern erleichtert angenommen.
Die Kinder erkennen in den realitätsnahen Bildern, bekannte Situationen wieder, spüren ihre eigene Wirksamkeit im Umgang damit, und viele, die anfangs einen bedrückten Eindruck gemacht haben, entspannen merklich. Das spürt man besonders, wenn sie beim folgenden Höhepunkt dem Tröpfchenexperiment durcheinander lachen und fröhlich quietschen. Sie haben das Gefühl, selbst den Beweis gefunden zu haben, warum Masken schützen und werden in den nächsten Tagen die Lehrkräfte jeden Tag auf die Masken ansprechen. Und man sieht es auch an den Bildern, die sie auf ihre Masken malen. Fast immer sind es fröhliche Motive, obgleich manche von ihnen noch zum Stundenbeginn von verstorbenen Menschen aus ihrem Umfeld berichtet hatten...
* Exakt waren es übrigens 89 Klassen mit 2117 Kindern und Lehrern, die mit diesem Projekt seit Juni 2020 geschult wurden, denn unsere Statistik zählt die für das Projekt gefertigten Masken. (Stand 21.10.2020)